Es war an einem dieser Tage, an denen der Wind den Sommer forttrug, als ich in meinem Haus saß, allein mit meinen Gedanken. Mein Blick wanderte über den Garten, der sich in der Dämmerung
verlor, und das Licht schien sich wie in Träumen zu verflüchtigen. Es war ein Abend, der noch nicht ganz Nacht war, ein Moment dazwischen, in dem die Zeit den Atem anhielt.
In der Ecke des Flurs lagen die roten Lackschuhe, deren glänzendes Leder im schwachen Licht wie ein stilles Versprechen wirkte. Diese Schuhe
hatte meine Tochter als Jugendliche bekommen. Sie hatte sie oft getragen, mit einer Haltung, die mir damals fremd war. Selbstsicher, unabhängig, als würde sie damit die Welt betreten, die ihr gehörte. Der hohe Absatz und der spitze Schnitt passten zu der jungen Frau, die sie geworden war. Sie war ganz anders als ich. Freier. Mutiger.
Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als sie die Schuhe zum ersten Mal zeigte. Ihre Augen leuchteten. In diesem Moment war sie noch ein
Mädchen, doch ich erkannte, dass sie sich veränderte. Schritt für Schritt entfernte sie sich, so wie es alle Kinder irgendwann tun. Es war ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess. Ein Weg in die Selbstwerdung, auf dem sie sich von mir abgrenzte, um sich selbst zu finden.
Als ich die Schuhe nun in die Hand nahm, war das Leder noch immer makellos, obwohl sie seit Jahren unberührt dort lagen. Ich spürte einen flüchtigen Widerstand in mir, als ich sie anprobierte. Fast so, als wollte mein Körper mich warnen. Die Absätze waren hoch, das Fußbett zu eng, und sie drückten schmerzhaft. Doch es war nicht nur körperlicher Schmerz. Es war die Konfrontation mit dem, was ich nie gelebt hatte. Mit jener Version von Frau-Sein, die mir fremd geblieben war.
Im Spiegel sah ich mich selbst. Aber da war auch etwas von ihr in meinem Blick. Ich hörte fast ihre Schritte durch das Haus, spürte ihre Gegenwart in der Erinnerung. Sie hatte sich nie an meinem Bild von Weiblichkeit orientiert. Sie war ihren eigenen Weg gegangen. Und ich hatte sie oft nicht verstanden. Vielleicht sogar beurteilt. Nicht aus
Ablehnung, sondern aus Unsicherheit. Aus der Angst, selbst zu kurz gekommen zu sein.
„Du bist anders als ich“, flüsterte ich. Und plötzlich fühlte sich dieser Satz nicht wie Verlust an, sondern wie Wahrheit. Meine Tochter ist nicht ich. Sie ist eine andere, mit ihren eigenen Träumen, ihren eigenen Wunden, ihrem eigenen Mut.
Ich zog die Schuhe wieder aus und stellte sie
behutsam zurück an ihren Platz. Ich hatte sie nie getragen, diese roten Lackschuhe. Und das war gut so. Denn sie gehörten nicht mir. Sie gehörten einer Frau, die nicht in meine Fußstapfen treten musste, um ihren Weg zu finden.
In dieser Erkenntnis lag ein Moment tiefer innerer Ruhe. Fast so, als hätte ich etwas Schweres abgelegt. Ich hatte meine Tochter gehalten, als sie klein war. Nun durfte ich sie loslassen.
Als der Wind durch das offene Fenster strich, wusste ich, dass es gut war, dass sie anders war. Und es war gut, dass ich es nun verstehen konnte. Denn meine Tochter hatte sich selbst gefunden. In den roten Schuhen, die ich nie getragen hätte.
Von Elisabeth Hatscher, April 2025.
Für meine Mutter, meine Tochter und alle, die geboren wurden und geboren haben, in Körpern, in Gedanken und in Erinnerungen.
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