Die Mutter und der Vielfraß
Ein Märchen für Erwachsene, die sich noch erinnern können
Es war einmal eine Frau, die lebte allein in einem kleinen Haus am Waldrand. Niemand kannte ihren Namen, denn sie sprach selten mit anderen. Man nannte sie nur die Mutter, obwohl kein Kind bei ihr wohnte.
Am Tage war sie freundlich und hilfsbereit, buk Brot für die Alten und heilte Tiere mit Kräutern, die sie aus dem Wald holte. Ihre Hände waren sanft, ihre Stimme leise.
Am Tag war sie allein, doch die Nacht brachte ihr Begleitung, die nur sie kannte. Denn in ihr wohnte ein Wesen, das niemand sehen konnte. Der Vielfraß. Er hatte viele Mäuler. Eines verlangte nach Süßem, eines nach Fleisch, eines nach Lob, eines nach Tränen, eines nach all dem, was sie sich selbst versagte. Und jede Nacht flüsterte er ihr zu, sie solle mehr geben, mehr leisten, mehr sein. Gib mir mehr, sagte er. Gib mir alles. Du musst.
Er fraß ihre Gedanken, ihre Ruhe und ihre Träume. Er nagte an ihrer Haut, bis sie sich selbst kaum noch spürte. Und manchmal, wenn der Mond rund war und die Nacht zu hell, erwachte die Frau am Morgen und wusste nicht, was sie getan hatte.
Eines Abends, als der Wind durch die Ritzen des Hauses strich und die Tiere des Waldes verstummten, trat sie vor den Spiegel. Ihre Augen blickten leer, ihre Schultern waren schwer. Ich kann nicht mehr, sagte sie leise. Ich will dich nicht mehr füttern. Da lachte der Vielfraß in ihrem Inneren mit tausend Zähnen. Ohne mich bist du leer, sagte er. Wer bist du denn ohne mich. Du gibst nur, weil ich nehme. Du liebst nur, weil ich hasse. Ich bin deine Kraft. Ich bin dein Herz.
Die Frau zitterte. Sie wusste, dass sie einen Teil von sich verlieren würde, wenn sie ihn verstummen ließ. Aber sie wusste auch, dass sie sonst verschwinden würde. In jener Nacht nahm sie ein Messer, ging in den tiefsten Teil des Waldes und schnitt dort ein Stück ihres Schattens ab. Es war das, was sie jahrelang getragen hatte, ohne es zu sehen. Sie grub ein Loch unter einem alten Baum, dem man nachsagte, er könne vergessen machen, und begrub das Stück dort.
Am nächsten Morgen war ihr Haar grau und ihre Augen müde. Der Vielfraß war nicht fort, denn ganz fort geht er nie, aber er war stiller, nicht mehr ganz so laut.
Sie lebte weiter. Half weiter. Doch nun sprach sie manchmal Nein. Aß das letzte Stück Kuchen selbst. Blieb sitzen, wenn jemand rief. Und wenn der Vielfraß wieder flüsterte, sagte sie nur: „Ich höre dich. Aber ich folge dir nicht mehr.“
Von Elisabeth Hatscher, März 2025.
Auflage I, 50x, Mai 2025

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